Heute: Wann schreibe ich welches "S" wie?
(1) In der Anrede schreibe ich S groß. Jedenfalls dann, wenn es 'vorn' steht. Das ist ein Überbleibsel des grammatikalischen Falls "Vokativ", der im deutschsprachigen Raum im Akkusativ akkumuliert wurde (daher der Name "Sammelfall").
Sehr geehrter X. Sie sind heute sehr freundlich.
Insbesondere unterscheidet sich "sie" von "Sie": ersteres ist ein Pronomen. Zweiteres ist die Anrede. "Sie sind freundlich" und "sie sind freundlich" bezeichnen daher grundlegend verschiedene Sachverhalte:
- "Sie sind freundlich" spricht den Gegenüber an und spricht ihm dieses Attribut zu.
- "sie sind freundlich" spricht allen anderen dieses Attribut zu und die Verwendung des exclusiven "sie" (statt des inclusiven "ihr") schließt den Angesprochenen insbesondere von der Attributierung aus.
(2) Auf kurzen Vokal folgt am Wortende üblicherweise die Ligatur "ß". Es gibt ein paar Ausnahmen; die stammen hauptsächlich daher, um Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Beispiel: Groß vs. Gros.
(3) Diese Ligatur wird an allen anderen Stellen in ein 'ss' aufgelöst, wenn sie der Regel in (2) entsprach: das Faß => die Fässer (Pluralkonstrukt). Der Deckel meines Fasses (Genitiv, Singular) bzw. meiner Fässer (Genitiv Plural).
(4) Das gilt analog insbesondere nicht für die Ausnahmen von der "ß auf langen Vokal am Wortende". Hier bleibt die Ligatur erhalten: Die Größe. Mehrere Maße. Offensichtlich haben wir auch hier eine Unterstützung zur Aussprache und zur Eindeutigkeit: Grösse spricht sich anders (kurzes ö) und "Masse" bedeutet etwas Anderes als "Maße".
(5) Der Vollständigkeit halber fehlt noch ein drittes s: das sogenannte lange s ("ſ"), welches dem kleinen F ("f") sehr ähnlich sieht, mit diesem aber nicht zu verwechseln ist.
Das ſ findet Anwendung in der Silbenbildung, wo es den Auslaut designiert. Das runde s designiert im Gegensatz dazu den Inlaut.
Beispiel:
Der Gaſt. Die Stube.
Hier wird deutlich, warum das ß kein Buchstabe ist, sondern eine Ligatur: Es ist eine Verschmelzung vom langen ſ und dem z zu einer Kombination von ſz oder auch ſs. Analog dem kaufmännischen UND ist das ß also eine Verbindung, eine Ligatur aus zwei Buchstaben (ſ+z => ß, e+t (lat. "und") => &).
Das ſ dient insbesondere der semantischen Trennung an Silben- und Wortgrenzen, und zwar immer dann, wenn ein s-Laut involviert ist.
Beispiel: Peterson. Ist das PETER-SON oder PETERS-ON? Mittels der Inlaut-/Auslautkombination von s und ſ ist das designierbar als Peterson (Peter-son) und Peterſon (Peters-on).
Gerne angeführt wird auch "Wachstube". Ist das Zimmer gemeint? Oder ein Behältnis für Wachs? Ersteres ließe sich als "Wachstube" ausdrücken, zweiteres als Wachſtube.
Dieser Beitrag wurde von RalphS bearbeitet: 25. Mai 2017 - 14:21